Mein Vater Wilhelm Jordan war bei Beginn des Zweiten Weltkrieges noch nicht einmal 18 Jahre alt. Vom Krieg hat er selten erzählt, obwohl er ihn über vier Jahre lang als Soldat miterlebt hat. Meistens waren es kurze Begebenheiten, von denen er sprach, als ob das eine schöne Zeit für ihn gewesen war. Wir Kinder sind mit dem Gefühl groß geworden, dass unser Vater den Krieg nur aus der Etappe mitbekommen hat und keine schlimmen Erlebnisse hatte.
Einige Jahre nach seinem Tod erzählte mir meine Mutter, dass er doch ein paar Mal über Dinge gesprochen hat, die ihn nach all den Jahren noch verfolgt hatten. Von wochenlangen Bombenangriffen war die Rede, und bei einem davon war sein Freund getötet worden. Offenbar hat mein Vater nur ungern davon gesprochen, mehr aus Versehen bzw. als er kurz vor seinem Tod schon verwirrt war.
Aus Willis Militärzeit gab es keine Informationen mehr, bis auf ein Photoalbum, das er nach dem Krieg selbst angelegt hat. Von meinen Recherchen zu anderen Themen wusste ich aber, dass mittlerweile sehr viele Informationen über alles Mögliche im Internet zu finden sind. Vielleicht würde sich anhand der Bilder und Beschriftungen in Willis Album mehr über seine Zeit im Krieg herausfinden anlassen? Meine Suche war sehr ergiebig, und das Ergebnis möchte ich hier zeigen.
Auf den Einband seines Erinnerungsalbums hatte Willi das Band von seiner Militärmütze geklebt, auf dem stand
und auf der Innenseite:
Willis Militärzeit begann mit einer Grundausbildung bei der Infanterie in Beverloo in Belgien. Sie währte nur sechs Wochen, vom 6. Februar bis zum 24. März 1941. Aus dieser Zeit gibt es nur wenige Photos, fast alle von ihm selbst in Uniform.
Dass Willi irgendwie mit U-Booten zu tun gehabt hatte, war fast das einzige, was ich von seiner Militärzeit wusste. In Erinnerung war mir ein Photo, auf dem junge Männer in einem riesigen Wassertank Tauchübungen veranstalteten. Mehr hatte mich leider nie interessiert, und ich hatte nur eine vage Vorstellung, dass er irgendwo in Westeuropa am Atlantik stationiert war.
Als ich anfing, nach Namen zu suchen, die in Bildunterschriften vorkamen, merkte ich sehr schnell, dass Willi nicht irgendwo in einer Ausbildungskaserne seine Militärzeit verbracht hatte, sondern in einem der strategisch bedeutsamsten U-Boot-Standorte an der französischen Küste. In Lorient waren während des 2. Weltkrieges von der deutschen Wehrmacht riesige Anlagen und Bunker für Wartung und Stationierung von U-Booten errichtet worden. Die größten dieser Bauwerke haben die Zerstörungen des Krieges überstanden und sind heute noch vorhanden.
Die Kaserne, in der Willi stationiert war, lag etwa zwei Kilometer flussaufwärts der U-Boot-Bunker am Stadtrand von Lorient. Sie gehörte zu dem alten Kriegshafen am Unterlauf des Flusses Scorff kurz vor seiner Einmündung in den Blavet. Die ersten Bilder in Willis Album zeigen den Innenhof und das Gebäude, das das Kasernen-Geviert zum Fluss hin abschließt.
Auf einer alten Postkarte (ca. 1910) ist die Anlage der Kasernengebäude zu erkennen. Das Gebäude auf Willis Photo sieht man am linken Bildrand. Er hat es photographiert aus dem Gebäude rechts über den Hof hinweg. Ein "Blick auf Lorient" in seinem Album wurde aus dem Obergeschoss desselben Flügels aufgenommen. Hier also war Willi stationiert, zumindest zu Beginn seiner drei Jahre Dienstzeit in Frankreich.
Aus Willis Kommentaren zu seinen Bildern erfährt man, daß er zur 1. Gruppe gehörte. Die Bildunterschriften verraten nicht viel mehr, aber die Bilder selbst zeigen einige Details, die weitergehende Schlüsse zulassen. Dieses Photo zeigt Willis Gruppe an Pfingsten 1941 vor dem Eingang seiner Unterkunft.
An der Tür hängt ein Schild mit der Aufschrift "Luftschutzkompanie". Über diesen Truppenteil ist fast nichts im Internet zu finden, aber eine Spur führte mich über die Google-Buchsuche zu einem Buch 1) über den Marine-Stützpunkt Lorient, das ich in der Bayerischen Staatsbibliothek in München ausleihen konnte. Und nur in diesem Buch fand ich eine kurze Schilderung der Luftschutzkompanie und ihrer Aufgaben:
"Dem Stabsamt unterstellt war der Luft- und Feuerschutz der Werftanlagen. Hierfür stand die 'Luftschutzkompanie' zur Verfügung, aus ausgesuchten Marinesoldaten bestehend, die nach Aufgabe des Unternehmens 'Seelöwe' [die geplante Eroberung Englands] freigeworden waren. Von den Kompaniechefs sind zu nennen: Korvettenkapitän (MA) Deubel und Kapitänleutnant (W) Pfänder. Die Kompanie stellte auch die Ehrenwache beim Empfang der U-Boote, die mit besonderem Erfolg heimkehrten. Mit Verschärfung der allgemeinen militärischen Lage wurden die Soldaten zum größten Teil abkommandiert, der Rest den in erster Linie gefährdeten Arbeiterlagern zugeteilt. Auf die Männer der Luftschutzkompanie war stets Verlaß; sie haben mit der französischen Arsenalfeuerwehr vorbildlich zusammengearbeitet und sich gemeinsam bei Großbränden stets selbstlos eingesetzt." 1)
Dieses Photo zeigt Willis Gruppe "mit Gerät", und nach der obigen Beschreibung der Aufgaben der Luftschutzkompanie kann man unschwer erkennen, daß er zu den Feuerwehrleuten seiner Kompanie gehörte. In Friedenszeiten wäre das sicher eine interessante Tätigkeit gewesen, aber wir werden noch sehen, daß er und seine Kameraden viel zu tun hatten, zumal unter den Bedingungen eines Krieges.
Auf Willis Photos ist nichts vom Krieg zu sehen. Die einzige Ausnahme ist ein ausgebombtes Haus, vor dem er mit Kameraden posiert wie vor einer Sehenswürdigkeit. Die meisten Bilder zeigen schöne Augenblicke, Willi mit Kameraden beim Stadtbummel in Lorient, am Strand bei Quiberon oder auf einem Ausflug an die Atlantikküste.
Der Krieg war weit weg, und wurde nur sichtbar, wenn wieder ein U-Boot von einer Feindfahrt in den Hafen einlief. Am Turm hingen Rettungsringe der versenkten Schiffe und die Wimpel am Mast zeigten die Anzahl der zerstörten Bruttoregistertonnen an.
Für die jungen Soldaten waren die heimkehrenden U-Boote eine spannende Abwechslung. Als am 1. Mai 1941 die U 124 mit Kapitänleutnant Wilhelm Schulz 2) in Lorient einlief, wurde die Besatzung mit Blasmusik empfangen. Vizeadmiral Karl Dönitz 3), der von 1940-42 vom Schloss Kernével bei Lorient aus als Befehlshaber der U-Boote für alle Einsätze verantwortlich war, ging an Bord. Schulz war noch während dieser Fahrt mit dem Ritterkreuz ausgezeichnet worden, für die Versenkung von elf Schiffen mit insgesamt 175 Toten. 4)
Ähnlich begeistert wurde am 30. Mai Kapitänleutnant Herbert Wohlfarth 5) mit der U 556 empfangen. Auf der 30 Tage dauernden Fahrt von Kiel hatte seine Besatzung sechs Schiffe versenkt. Dönitz verlieh ihm ebenfalls das Ritterkreuz. 6) Die Luftschutzkompanie, Willis Kameraden, waren zu Ehren Wohlfarths angetreten. Das Foto in Willis Album ist fast identisch mit einer Aufnahme dieser Parade in dem oben genannten Buch 1).
Aber die U-Boote kamen nicht zum Feiern nach Lorient, sondern um wieder kampfbereit gemacht zu werden für die nächste Fahrt. Dafür wurden seit 1940 bereits vorhandene Anlagen ausgebaut und zusätzlich drei riesige Betonbunker errichtet, die der Reparatur der U-Boote und dem Schutz vor Bombenangriffen dienen sollten. 7) Obwohl Willi zu dieser Zeit in Lorient seine Ausbildung machte, ist auf seinen Fotos nichts von diesen Bunkern zu sehen. Aber schon bald würde er die Folgen dieses Baus spüren, denn die Bunker und die stationierten U-Boote stellten eine erhebliche Gefahr dar für die britische Flotte.
Schon ab September 1940 hatte es Angriffe der englischen Luftwaffe auf die U-Boot-Basis in Lorient gegeben. 8) Die U-Boot-Bunker waren die deutsche Antwort darauf, aber anstatt die Arbeiten daran zu verhindern, stellten die Briten die Bombardierungen ein. Frankreich war trotz allem ein befreundeter Staat, und die Gefahr durch den Bau der Bunker wurde erst so richtig erkannt, als diese fast fertig gestellt waren. Auch in anderen französischen Städten entlang der französischen Atlantikküste waren ähnliche Bunker gebaut worden.
Im Januar 1943 schließlich befahl Churchill, die Städte um die U-Boot-Basen zu zerstören, um ihre Versorgung zu erschweren.
"Demzufolge wurde eine Entscheidung getroffen, die folgenden Basen mit aller Kraft in der Nacht anzugreifen, um das gesamte
Areal der U-Boote, ihrer Reparaturwerkstätten, die Infrastruktur und andere Ressourcen, von denen ihr Betrieb abhängt,
entscheidend zu zerstören. Die Reihenfolge der Basen nach ihrer Wichtigkeit ist wie folgt: Lorient, St. Nazaire,
Brest, La Pallice." 15)
Lorient sollte als Testobjekt dienen und das weitere Vorgehen vom Erfolg der Bombardierungen abhängen. Britische Verbände flogen daraufhin zwischen Mitte Januar und Mitte Februar 1943 neun schwere Angriffe. Obwohl die Bevölkerung evakuiert worden war, gab es viele Tote. Die Stadt wurde weitgehend zerstört, aber gegen die meterdicken Betonmauern der Bunker konnten die Bomben wenig ausrichten. 10)
General Fahrmbacher berichtet in seinem Buch über Lorient über diese Angriffe und seine Folgen: 1)
"Die Bombenangriffe der Briten, später der Alliierten, erreichten ihren Höhepunkt im Januar 1943.
Lorient wurde von einer Unzahl von Brand- und Sprengbomben getroffen.
Die Gebäude des französischen Arsenals [zu dem auch Willis Kaserne gehörte] gingen in Flammen auf, die Stadt wurde zerstört.
Soweit wir wissen, war es die erste Stadt auf dem Kontinent, der dieses Schicksal bereitet wurde.
Die Bevölkerung hatte etwa 370 Tote zu beklagen und verließ fluchtartig Lorient;
die Werft verlor vier Mann von der Luftschutzkompanie [Willis Kompanie]. Die militärischen Folgen waren unbedeutend."
Willi hatte einmal von diesen wochenlangen Bombardierungen berichtet. Er und seine Kameraden waren in diesen Tagen nicht aus den Kleidern gekommen, und als ihn zu der Zeit sein Bruder Otto besuchte, hatte er Willi nicht erkannt, weil er so verdreckt war. Und Meggy gegenüber hat Willi, fast aus Versehen, von einem Bombenangriff erzählt, bei dem ein Freund ums Leben gekommen war. Er sprach aber offensichtlich nicht gerne darüber und hat schnell das Thema gewechselt. Diese Zeit muss für die französische Bevölkerung und die deutschen Soldaten gleichermaßen traumatisch gewesen sein. In Fahrmbachers Buch ist davon wenig zu spüren. Stolz berichtet er dagegen, dass in einem der U-Boot-Bunker eine Kaserne für 1000 Mann errichtet wurde und die Reparaturarbeiten an den U-Booten ungehindert weiter gingen.
Ob Willi die zweite Hälfte seiner Dienstzeit in Lorient in dieser Kaserne verbrachte oder in einem der Arbeiterlager außerhalb der Stadt untergebracht war, konnte ich nicht herausfinden. Viele Photos in seinem Album sind unbeschriftet und es ist unklar, ob sie aus der Zeit in Lorient oder von seinem späteren Kommando an der Ostsee stammen.
In einem Film des französischen Archivs INA (Institut national de l'audiovisuel) sieht man das bombardierte Lorient und auch die Kaserne, in der Willi stationiert war. Wie die Stadt selbst war auch die Kriegsmarinewerft einschließlich der Kaserne völlig zerstört worden. Die U-Boot-Bunker hatten alle Bombenangriffe fast unbeschadet überstanden, und anstatt die Basis aufzugeben, hatten die Deutschen alle Einrichtungen in deren Schutz verlegt.
Am 6. Juni 1944 landeten die Allierten in der Normandie. Von dort aus rückten sie schnell vor und bald war Frankreich zum größten Teil von der deutschen Besatzung befreit. An einigen Stellen leisteten die Deutschen länger Widerstand. In Lorient wurden am 12. August 25000 Soldaten und Zivilisten eingeschlossen und gaben erst bei Kriegsende auf. Willi war zu diesem Zeitpunkt bereits nach Gotenhafen abkommandiert worden. Wann genau und auf welchem Weg er dorthin kam, ist nicht bekannt. Die U 55 verließ am 5. September 1944 als letztes U-Boot Lorient. 12) Vermutlich schon vorher, aber spätestens dann hat Willi Lorient verlassen.
Die Wilhelm Gustloff wurde im März 1938 in Dienst gestellt und war ein Kreuzfahrtschiff der nationalsozialistischen KdF-Organisation. Nach Beginn des Krieges wurde die Gustloff als Lazarettschiff an die Kriegsmarine übergeben und diente als Verwundetentransporter. Ab Ende 1940 wurde sie als Wohnschiff für die 2. U-Boot-Lehrdivision in Gotenhafen genutzt.
Willi war auf die Gustloff abkommandiert worden und sollte dort zum Rudergänger ausgebildet werden. Aus seiner Zeit in Gotenhafen ist fast nichts bekannt. Zu unseren Familienlegenden gehört aber Willis Erzählung, wie seine Mutter einen Brief an ihn mit "Obergefreiten Wilhelm Gustloff" adressiert hat, was zu großem Gelächter bei der Postverteilung führte.
Die Photos in Willis Album aus dieser Zeit sind leider alle unbeschriftet. Einige Bilder, die Soldaten bei der Tauchausbildung zeigen, wurden aber offensichtlich zu Ausbildungszwecken benutzt und stammen nicht von ihm.
Willi hat nur wenige Monate in Gotenhafen zugebracht. Seine Ausbildung fand statt bei der 22. U-Boot-Flotille, die ebenfalls in Gotenhafen stationiert war. Am 21. Januar 1945 wurde von Großadmiral Dönitz die Evakuierung der Danziger Bucht unter dem Kennwort Hannibal angeordnet. 17) Die 22. U-Boot-Flotille wurde in diesem Rahmen in einen Hafen weiter im Westen verlegt.
Bei einem Photo im Wilhelm-Gustloff-Museum steht der folgende Text (auf Englisch):
"Nach unseren Informationen ist klar, dass diese Crew-Mitglieder alle zur 2. U-Boot-Lehrdivision gehörten,
deren Angehörige alle auf der als schwimmende Kaserne dienenden Wilhelm Gustloff untergebracht waren.
Diese U-Boot-Lehrlinge trainierten auf Schiffen der 22. U-Boot-Flottille, ebenfalls in Gotenhafen stationiert,
die speziell als Ausbildungsflottille eingerichtet war. Eines ihrer Schulboote war die U-143 unter dem
Kommando von Oberleutnant-zur-See Walter Kasparek. Im Januar 1945, vor der Ankunft der Roten Armee in Gotenhafen,
wurde die 22. U-Boot-Flottille einschließlich der U-143 in einen Hafen weiter westlich verlegt
(in welchen ist unklar, vielleicht Stettin, Swinemünde oder Kiel). 18)
Aus Willis wenigen Erzählungen wissen wir, dass er von Gotenhafen nach Stettin kam. Das obige Zitat lässt vermuten, dass er im Januar 1945 mit der 22. U-Boot-Flottille nach Stettin verlegt wurde. Das war nur wenige Tage, bevor die Wilhelm Gustloff mit "ungefähr 7000 Menschen, darunter auch 918 Soldaten der 2. U-Boot-Lehrdivision sowie 373 Marinehelferinnen" 21) auf der Flucht in den Westen torpediert wurde.
In Stettin machte Willi eine Flakausbildung. Dort half er auch, Flüchtlinge aus dem Osten in Züge, z. B. nach Dresden zu geleiten.
Im Frühjahr 1945 geriet Willi in englische Kriegsgefangenschaft. Dort muss es ihm relativ gut ergangen sein. Er arbeitete auf Gutshöfen an der Ostsee und hatte genug zu essen. Trotzdem floh er mit einem Kameraden, wurde aber kurz vor Bad Hersfeld erwischt. Im Frühsommer 1945 durfte er endlich nach Hause.